Was passiert, wenn man eine Truppe Studierende der Wiener Germanistik durch die Stadt auf Lingscape-Exkursion schickt? So viel sei bereits zu Beginn verraten: Es nimmt Ausmaße an, die nicht zu erwarten waren.
Starten wir aber von vorne. Es geht um eine Exkursion des Proseminars „Digital Na(t)ives: Digital Humanities und Sprachwissenschaft“ an der Germanistik der Universität Wien. Mit wie üblich zu wenig Zeit bereiteten Ludwig Maximilian Breuer und Melanie Seltmann einen Exkursionsleitfaden zusammen unter dem Titel „Vienna Vastata“ vor und betteten die Exkursion in ein postapokalyptisches Szenario ein, in welchem die Studierenden in zwei Gruppen auf Expedition zur Exploration des nach der Katastrophe übrig gebliebenen Wiens geschickt wurden.
Eines der wenigen Dinge, die während der Katastrophe verloren gegangen sind, sind die Bibliotheken des Landes. Natürlich hat man jede Menge Bücher gefunden, aber es gibt große Wissenslücken – insbesondere Forschung, die diese Digital Humanities Leute nur noch online veröffentlicht hatten, ist verschwunden. […] Jedenfalls gibt es nun wieder einiges neu zu entdecken. 200 Jahre Geschichte haben sich auch in der Sprache bemerkbar gemacht; unkontrollierter Sprachwandel, neue Dialekte haben sich in den verschiedenen Gruppen Überlebender gebildet. […] Wie dem auch sei, es gilt in Wien vieles zu erforschen. Überreste der alten Kultur, der alten Sprache, der alten Sprachen, die in Wien gesprochen worden sind. Das CPU-Forschungsteam rund um Christoph Purschke hat zum Zweck der Dokumentation schriftlicher Zeugnisse der Sprachen vor der Katastrophe ein Programm entwickelt: Lingscape. Und Sie sind Teil einer Forschungsgruppe, die versucht, die Sprachlandschaft Wiens zu kartieren und dabei möglichst viele Besonderheiten zu entdecken.
(Breuer/Seltmann 2017: Lingscape-Tour: Vienna Vastata)
Die Gruppen wurden nach Matzleinsdorf und Ottakring geschickt, da diese Umgebung bisher noch kaum Uploads in Lingscape zu verzeichnen hatten. Neben der Sammlung linguistischer Fundstücke in der Linguistic Landscape Wiens sollten sie auch einen Erfahrungsbericht schreiben, der in beiden Fällen unterschiedlich, aber höchst kreativ ausgefallen ist. Im Feld kam es darauf an, in der Gruppe möglichst viele Uploads zu sammeln, möglichst viele verschiedene Sprachen zu finden, viele Fälle von deutschsprachigen Nichtstandardvarietäten zu sammeln und Uploads möglichst weit von der Universität Wien entfernt hochzuladen.
Gruppe 1 Matzleinsdorf – FLOREK
Die Gruppe 1 verfasste ihren Erfahrungsbericht in Form eines zusammenhängenden Protokolls und ging dabei sehr explizit auch auf die Aufgabenstellung und Einleitung ein.
Am 22.Juni des Jahres 200 n.K. sollten wir im Rahmen der derzeitigen Erkundungsoffensive in den Randbezirken Wiens eine Sprachfossilien-Sammelmission durchführen. Unser Kernteam wurde dabei in zwei Gruppen aufgeteilt, die den Bereich um je ein unterschiedliches Sprachartefakt mit dem Fundprotokollierungsprogramm LingScape kartieren sollten. Da letztens dieses Internet neu erfunden wurde, konnten die beiden Expeditionsgruppen den Fortschritt der jeweils anderen mitverfolgen, sowie in ständigem Kontakt bleiben. Dieses Protokoll widmet sich der Unternehmung der Projektgruppe A unter der Leitung von SFB-Expertin Seltmann, die sich dem bereits kartierten Sprachartefakt mit Kennzeichen #Florek annehmen sollte.
(Expeditionsprotokoll #Florek)
Auch spickte der Protokollant seine Ausführungen mit passenden Verweisen (aus erdachter relevanter Literatur):
Denn auch wenn die Rekolonialisierung in weiten Teilen Wiens reibungslos abläuft, häuften sich in letzter Zeit Meldungen aus den südlichen und westlichen Gebieten, Zombies seien gesichtet worden, die ahnungslose Linguistenhirne fräßen. Selbst wenn Parker und Stone mit ihren waghalsigen Erkundungen nahelegten, dass unsere Geschichtsschreibung auf einem großen Irrtum basiert1, so ist in unseren Vorstellungen die Zombieapokalypse noch sehr präsent. Für Zombiekontakt waren die Expeditionsteilnehmer zwar definitiv nicht genügend vorbereitet worden, dennoch fühlten sich alle der Aufgabe gewachsen und begannen ihre Arbeit.
(Expeditionsprotokoll #Florek)
1Ausgiebig und spannend geschildert in ihrem begleitenden Reisetagebuch „Und sie gibt es doch nicht: Neues über Echsenmenschen, Zombies und Wookies“ von 179 n.K.
Und schließlich nahm der Protokollant auch auf die gestellten Aufgaben und den erzeugten Wettbewerb Bezug:
Die Gruppe rund um Expeditionsleiter Breuer wird vielleicht behaupten, sie hätte einen bedeutenderen Beitrag geleistet. Es muss festgehalten werden: das stimmt nicht. Denn erstens herrschte im Team Florek leider ein Mangel an Einsatzgeräten, zweitens kam Gruppe B zu spät und drittens wirken drei Argumente viel überzeugender als zwei.
(Expeditionsprotokoll #Florek)
Auffallend ist, dass wenig zu den Funden oder der Route an sich geschrieben wurde, sondern eher das Setting an sich dokumentiert wurde.
Gruppe 2 Ottakring – ABOLISH THE STATE
Die zweite Gruppe, die auf Spuren der Gruppe A in Ottakring unterwegs war, gestaltete ihren Bericht als ein Logbuch. Sie sparten sich die Ausführungen zur Aufgabe und Hinfahrt und begannen die Aufzeichnungen beim „richtigen“ Start ihrer Erkundungen:
#1 (10.30.00) Gruppe vollzählig, Akkumulatoren aufgeladen, Lingscape aktiviert. Wir beginnen mit der Suche nach Zeugnissen der widerständischen Gruppe A und starten in einem Gebiet, das vor 200 Jahren gemeinhin als 16. Wiener Gemeindebezirk bekannt war.
(Logbuch FLAM)
Immer wieder wurde auf das Setting aus der Exkursionsbeschreibung zurück verwiesen und die Aufgaben mit einbezogen:
#8 (11.13.00) F hat mich auf einen Sticker mit dem Schriftzug ANDAS hingewiesen. ANDAS stammt mutmaßlich vom standardsprachlichen Wort “anders” – scheinbar eine regionale Varietät.
(Logbuch FLAM)
Im Gegensatz zur ersten Gruppe brachte die zweite Gruppe viele Funde und Orte mit ein in die Dokumentation und blieb etwas konsistenter in ihrem Bericht.
#15 (12.40.00) An der ehemaligen Mölker Bastei begegnen wir einem weiteren Rätsel. DIAF steht da geschrieben. Möglicherweise haben wir hier eine regionale Variante des Adjektivs “tief” entdeckt.
Weiters: FORB. Darauf kann sich nicht einmal L einen Reim machen. Was hat das alles zu bedeuten? Wir beschließen, in den Überlieferungen nachzuschlagen und unsere gefundenen Zeugnisse den Ältesten vorzulegen.(Logbuch FLAM)
Resümee der Exkursion
Zieht man ein Resümee über die Exkursion, lassen sich verschiedene Punkte festhalten. Zuerst einmal waren alle Teilnehmenden sehr teilnahmefreudig, wenn auch unterschiedlich motiviert möglichst viele Fotos hochzuladen. Man merkte jedoch, dass nach etwa zwei Stunden (vermutlich auch wegen der enormen Hitze) die Luft raus war und eigentlich kaum noch Fotos geschossen worden. Nichtsdestoweniger wurden 249 Fotos hochgeladen, was für 2 Stunden inklusive der zurückgelegten Strecken eine durchaus beachtliche Anzahl ist. Das vorgegebene Setting inspirierte sicherlich zu einem gewissen Fokus bei den Uploads (viele Graffitis, alles was mit Zombies zu tun hat etc.), sollte natürlich die Motivation durch einen Gamification-Aspekt, der immer auch den tatsächlichen Prozess beeinflusst.
Man kann sicherlich gut wieder eine ähnliche Exkursion durchführen, Gedanken machen sollte man sich jedoch, wie sehr man als Lehrperson mit als „Teilnehmer“ dabei sein möchte oder sich eher zurückzieht und die Gruppen alleine losziehen lässt. Das hängt sicherlich auch etwas vom Verständnis und der Motivation der Teilnehmenden ab.
Sehr positiv überrascht sind wir jedoch von den Berichten der Studierenden, die sehr kreativ geworden sind. Die Berichte geben einem zumindest das Gefühl, dass sich die Studierenden gut in das Setting einfügen konnten und Spaß an der Exkursion hatten.
Well done 🙂 No need to escape Lingscape – au contraire 😉